Vielfalt in der Einheit
Thema 16/2012
Während wir in den letzten Beiträgen auf die Gemeinsamkeiten der von Gott stammenden Religionssysteme eingegangen sind möchten wir nun die Frage stellen, ob es denn nicht doch auch Unterschiede gibt. Dabei muss die Fragestellung jedoch wie folgt differenziert werden:
a) Ist das Ziel, welches mittels der Systeme angestrebt wird, identisch?
b) Sind die praktischen Schritte, die unternommen werden, um ein Ziel zu erreichen, ähnlich oder identisch?
Zu diesen essenziellen Fragen des interreligiösen Dialogs ist zunächst festzustellen, dass natürlich der zu gehende Weg vom Ziel abhängig ist. Wenn ich nach Afrika reisen möchte, muss ich mich selbstverständlich anders verhalten als wenn ich eine Expedition zum Südpol unternehmen möchte! Ähnlichkeiten gibt es auf jeden Fall auch, denn in beiden Fällen werde ich beispielsweise Reisegepäck zusammen stellen.
Wenn wir also Licht in die unter a) angegebene Thematik gebracht haben, ist es fast nur noch eine Frage des gesunden Menschenverstandes, die Thematik b) zu verstehen.
Befassen wir uns also mit der Frage, ob mittels aller Religionssysteme dasselbe Ziel angestrebt wird. Glücklicherweise können wir im Vaishnavatum auf detailierte Beschreibungen vieler göttlicher Ziele zurück greifen. Aus den Lehren der Vaishnavas geht hervor, dass es - wie es auch Jesus erwähnt haben soll - im Hause des Vaters viele Wohnstätten gibt. Je nachdem, zu welcher dieser Wohnungen man gehen möchte, muss man entsprechend die spirituelle Praxis einrichten. Aus der Bhagavad-gita geht darüber hinaus hervor, dass Gott für uns vieles sein kann:
pitaham asya jagato
mata dhata pitamahah
vedyam pavitram omkara
rik sama yajur eva ca
gatir bharta prabhuh saksi
nivasah saranam suhrit
prabhavah pralayah sthanam
nidhanam bijam avyayam
"Ich bin der Vater des Universums, die Mutter, der Erhalter und der Großvater. Ich bin der Gegenstand des Wissens, der Läuternde und die Silbe OM. Ich bin der Rig, der Sama und der Yajur-Veda. Ich bin das Ziel, der Erhalter, der Meister, der Zeuge, das Zuhause, die Zuflucht und der beste Freund. ...." (Bhagavad-gita 9.17 - 9.18)
Ja, jedes Lebewesen strebt eine individuelle Beziehung zu Gott an. Die Vaishnavas teilen die Stimmungen dieser Beziehungen in fünf grundlegende Hauptkategorien ein. Die Beziehung kann neutral, dienend, brüder- oder schwesterlich, elternhaft oder erotisch liebend sein. Während Jesus Gott hauptsächlich als Vater und Mutter verehrt, kennen wir von den Muslimen schwerpunktmäßig den Aspekt des allmächtigen Gottes, dem wir mit Ehrfurcht begegnen wollen. Diese Ehrfurcht ist für alle spirituell Reisenden ein wichtiger Faktor, denn es ist eben eine Tatsache, dass Gott allmächtig ist und wir auf Seine Gnade angewiesen sind; in jedem Moment unseres Lebens!
Die Vaishnavas ordnen eine Beziehung zu Gott, die rein auf Respekt beruht, in die Kategorie der Neutralität ein, weil in einer solchen Beziehung keine Vertraulichkeit vorhanden sein kann. Wenn wir Gott als Vater/Mutter sehen möchten, ist dies eine Mischung aus Neutralität und einer dienenden Haltung, weil gute Kinder zum einen Respekt vor den Eltern haben und ihnen dienen.
Shrila Rupa Gosvami Prabhupada hat im 16. Jahrhundert im Auftrag des goldenen Avataras Shri Chaitanya (1486 - 1534 AD) die Beziehungen zu Gott in dem Werk Bhakti-Rasamrita-Sindhu detailiert dargelegt. Dieses Werk wurde vom Gründer der ISKCON Seiner göttlichen Gnade A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada für uns in dem Buch Der Nektar der Hingabe zusammen gefasst (siehe onlineshop). Es werden in diesem Buch also nicht nur die neutrale und dienende sondern auch die geschwisterliche, elterliche und erotisch liebende Beziehung erklärt. Für jede Stimmung, die in unserer individuellen Beziehung zu Gott vorherrscht, gibt es entsprechende Orte, wo wir diese leben können. Viele dieser Orte sind ewig, nämlich diejenigen, wo die Beziehung völlig rein gelebt wird. Andere Orte, zum Beispiel diejenigen unserer jetzigen Situation, sind vergänglich, weil unsere Haltung (Stimmung) im allgemeinen materiell verunreinigt ist, insbesondere durch Lust, Gier, Zorn, Illusion, Verrücktheit und Neid. Solch unvorteilhafte Beziehungen haben zum Glück irgendwann einmal ein Ende, weil Gott allbarmhezig ist und uns immer wieder eine Chance gibt, unsere Beziehung zu Ihm neu zu ordnen, um letztlich in eine ewig stabile und vorteilhafte Situation zu gelangen. Eine ewige Hölle gibt es nur in der abnormen Phantasie von elitären Sektierern.
Verschiedene religiöse Praktiken führen also zu verschiedenen religiösen Ergebnissen. Es ist unser ewiges individuelles Recht, das Ziel unserer Wahl anzusteuern:
ye yatha mam prapadyante
tams tathaiva bhajamy aham
mama vartmanuvartante
manusya partha sarvasah
"Alle belohne Ich in dem Maße, wie sie sich Mir ergeben. Jeder folgt Meinem Pfad in jeder Hinsicht, o Sohn Prithas." (Bhagavad-gita 4.11)
Dieser geniale Vers enthält alle Weisheit, die nötig ist, um unser Leben - ob religiös oder atheistisch - zu begreifen! Der Kommentar Seiner göttlichen Gnade A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada erleichtert uns diesen Erkenntnisprozess ungemein. Hier ein Auszug:
"Jeder sucht nach Krishna in dem einen oder anderen Aspekt Seiner Manifestationen. ...
Krishna ist also für jeden das Objekt der Erkenntnis, und so kann Ihn jeder unter dem Aspekt erkennen, den er sich wünscht. Auch in der transzendentalen Welt offenbart Sich Krishna Seinen reinen Geweihten in der transzendentalen Beziehung, die sich der Gottgeweihte wünscht. Der eine Gottgeweihte möchte Krishna als höchsten Meister sehen, ein anderer als persönlichen Freund, ein anderer als Sohn und wieder ein anderer als Geliebten. Krishna belohnt alle Gottgeweihten in gleichem Maße, das heißt entsprechend der Intensität ihrer Liebe. Auch in der materiellen Welt gibt es diesen Austausch von Gefühlen, und der Herr erwidert die verschiedenen Arten von Verehrung nach dem gleichen Prinzip. ... Was die Unpersönlichkeitsphilosophen betrifft, die spirituellen Selbstmord begehen wollen, indem sie die individuelle Existenz des Lebewesens vernichten, so hilft Krishna auch ihnen, indem Er sie in Seine Ausstrahlung aufnimmt. Diese Unpersönlichkeitsanhänger sind nicht bereit, die ewige glückselige Persönlichkeit Gottes anzuerkennen. ...."
Shrila Prabhupada geht in einem Kommentar zum Vers 10 des gleichen Kapitels noch weiter:
"Wie bereits erwähnt, fällt es einem Menschen, der zu sehr an materiellen Dingen hängt, sehr schwer, das persönliche Wesen der Höchsten Absoluten Wahrheit zu verstehen. Gewöhnlich sind Menschen, die an der körperlichen Lebensauffassung haften, so sehr in den Materialismus versunken, dass es für sie fast unmöglich ist, zu verstehen, wie das Höchste eine Person sein kann. Solche Materialisten können sich nicht einmal vorstellen, dass es einen transzendentalen Körper gibt, der unvergänglich, voller Wissen und ewig glückselig ist. Gemäß der materiellen Lebensauffassung ist jeder Körper vergänglich, voller Unwissenheit und voller Leid. Aus diesem Grunde behalten die Menschen im allgemeinen die gleiche Vorstellung vom Körper bei, wenn sie über die persönliche Gestalt des Herrn hören. Für solch materialistische Menschen ist die Form der gigantischen materiallen Manifestation (der Kosmos) das Höchste. Folglich halten sie das Höchste für unpersönlich . Und weil sie zu sehr in die Materie vertieft sind, erschreckt sie die Vorstellung, auch nach der Befreiung von der Materie ihre Persönlichkeit zu behalten. Wenn sie erfahren, dass spirituelles Leben ebenfalls individuell und persönlich ist, bekommen sie Angst, erneut Personen zu werden, und so ziehen sie es vor, irgendwie mit der unpersönlichen Leere zu verschmelzen. ... Darüber hinaus gibt es viele Menschen, die Spiritualität überhaupt nicht verstehen können. Verwirrt durch so viele Theorien und durch Widersprüche verschiedener philosophischer Spekulationen, fühlen sie sich abgestoßen oder werden zornig und kommen törichterweise zu der Schlußfolgerung, es gäbe keine höchste Ursache und letztlich sei alles leer. ....."
Hier wird klar, dass jedes Lebewesen eben das Resultat erfährt, welches es anvisiert. So sehen beispielsweise Naturalisten Gott in der Natur etc. Natürlich benehmen sie sich bei ihrem Gottesdienst anders als Spiritualisten oder diejenigen, die in die Leere eingehen möchten. Shri Krishna mischt sich in die freie Entscheidung des jeweiligen Lebewesens nicht ein und lässt sie den jeweiligen Aspekt Seines unbegrenzten Potenzials erfahren, sei es Naturgenuss, die Leere oder eben eine persönliche Beziehung.
Es entspricht also nicht dem Wesen Gottes, alles auf eine Linie bringen zu wollen. Die absolute Wahrheit zeichnet sich ewiglich durch unendliche Vielfalt aus. Die jeweiligen Vertreter ihrer spezifischen Richtungen können miteinander kommunizieren und so neue Erkenntnisse gewinnen. In den einzelnen Glaubensrichtungen wird Werbung gemacht, argumentiert usw. Das ist alles ganz natürlich. Wir leben nicht mehr im Mittelalter, in welchem es Glaubenszwang gab. Nun kann sich jedes Lebewesen frei entscheiden, in welcher Beziehung es zur absoluten Wahrheit stehen möchte. Das Vaishnavatum liefert für die Gesamtschau umfangreiche philosophische Grundlagen, die man in dogmatischem Sektierertum meist vermisst. Fundamentalistischer Glaubenszwang widerspricht dem Wesen Gottes. Jedoch dürfen auch Fanatiker auf dieser Erde leben, wenn sie auch meist Unfrieden erzeugen. Sie erhalten - wie jeder andere auch - das Ergebnis ihrer Taten in Form einer bestimmten Lebensqualität.
Was aus alledem also hervor geht ist, dass die Praktizierenden der verschiedenen Glaubensrichtungen unterschiedliche Ergebnisse bekommen und verschiedene Erfahrungen mit jeweils spezifischen Stimmungen - moods oder rasas - machen. Beispiele:
1. Die Vertreter der Leere fallen meist durch einen leeren Blick auf. Sie wünschen sich die Auflösung ihrer Existenz, weil sie sich ein glückseliges Leben nicht vorstellen wollen oder können.
2. Materialisten der unterschiedlichsten Kategorien, die aufgrund ihres Kampfes ums Dasein alle miteinander in Konkurrenz stehen, erfahren mehr oder weniger Glück inmitten ihrer angesammelten Errungenschaften, wobei sich folgende Hauptkategorien gegenüber stehen:
- Fromme oder Suras, die im Einklang mit den kosmischen Gesetzen leben und damit gutes karma schaffen.
- Die Asuras oder Dämonen, die gegen die kosmische Ordnung rebellieren und somit verbrecherische Neigungen mehr oder weniger ausleben. Sie müssen mit Verhaftung oder graduell unterschiedlichen Formen von Freiheitsentzug rechnen.
3. Die persönlichen Diener Gottes sind in ihrer reinen Beziehung zu Gott ewig und vollkommen zufrieden. Im Vaishnavatum ist diese Stufe die grundlegende Ausgangsbasis, auf die sich jeder zu seinem eigenen Nutzen erheben sollte.
Diese Einteilungen überschneiden sich und können auch auf vielfach andere Weise vorgenommen werden. Fest steht, dass nicht alles gleich ist. Die unendliche Vielfalt lässt sich nicht wegdiskutieren, weil sie zu Gottes Wesen gehört.
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