EINLEITUNG
Wie bereits im letzten Beitrag angekündigt, möchten wir an dieser Stelle
kurz aufzeigen, welches Verständnis einer sinnvollen Gesellschaftsordnung
sich aus den vedischen Schriften ergibt:
Shri Krishna beschreibt dieses in Grundzügen in der Bhagavad-gita. Der
Schöpfer des Universums, Brahma genannt, hat von Shri Krishna die Aufgabe
bekommen, den Lebewesen es zu ermöglichen, sich ihren Neigungen entsprechend
zu betätigen, ihnen gleichzeitig aber Wege zur Erhebung aus der materiellen
Verstrickung zu weisen bzw. diese Erhebung systematisch zu fördern. Brahma
empfing aus der transzendentalen Urschwingung die Veden, die alles nötige
Wissen zur Schöpfung eines entsprechenden Kosmos enthalten. Dieses Wissen
ist so umfangreich, dass wir nicht einmal nur daran denken können, es als
Menschen zu erfassen. Nur winzige Ausschnitte werden uns je nach Ort, Zeit
und Umständen zugänglich sein. Das reicht aber aus, um die jeweilige
Situation realistisch einschätzen zu können. Wir müssen also nicht alle
Details kennen, um verstehen zu können, was notwendig und gewollt ist bzw.
welche Missstände es gibt.
DER KOSMOS
Der Kosmos ist so gegliedert, dass die verschiedenartigsten Lebewesen an
entprechenden Orten ihre Neigungen ausleben können. An jedem dieser Orte
gibt es Spielregeln, die der Lage angemessen sind. Verletzungen der Regeln
führen zu ungewünschten Begleiterscheinungen für die Straftäter, je nach
Gewicht der Ordnungswidrigkeiten.
Die Existenzebenen werden grob unterteilt in die höheren, die himmlischen,
die irdischen, die dämonischen und die höllischen Systeme. Auf den höheren
Systemen sind die Lebewesen im yoga sehr fortgeschritten und streben
stufenweise der Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod entgegen. Die
himmlischen Systeme dienen ehemals frommen Erdenbewohnern als Orte des
Genusses. Die Frommen erhalten dort ihren vergänglichen Lohn und gelangen
dann wieder zu den irdischen Ebenen, wo sie eine neue Chance bekommen, sich
aus dem kosmischen Kreislauf zu befreien. Auf den dämonischen Systemen leben
diejenigen, die dem Materialismus fröhnen und nicht durch religiöse Lehren
gestört werden wollen. Sie verehren dort diejenigen, die den Materialismus
befördern, also Dämonen. In den höllischen Systemen werden Lebewesen
bestraft, die auf den irdischen Ebenen äußerst sündvoll waren. Die Strafen
sind jedoch nicht ewig sondern haben ein Ende. Die Lebewesen werden also
auch wieder aus der Hölle entlassen, wenn sie ihre Strafe abgebüßt haben. In
der Regel steigen sie in der ein oder anderen Weise über verschiedene
Lebensarten wieder in die menschliche Lebensform auf. Sie haben dann wieder
die Chance, spirituellen Fortschritt zu machen, oder aber lassen sie die
Chance wieder ungenutzt verstreichen etc.
DIE IRDISCHE EBENE
Die menschliche Lebensform auf den irdischen Systemen ist besonders dazu
bestimmt, Selbst- und Gotteserkenntnis zu erlangen, um aus dem Kreislauf von
Geburt und Tod aussteigen zu können und nach Hause, ins Reich Gottes, zurück
zu kehren. Dies gilt besonders für Menschen, die sich als zivilisiert
bezeichnen.
Um das Zusammenleben auf dem Planeten Erde sinnvoll zu gestalten, ist es
unabdingbar, die verschiedenen Neigungen der Menschen und auch der Tiere und
Pflanzen zu berücksichtigen. Eine künstliche Gleichschaltung wird niemals zu
großen Erfolgen führen. Die Lebewesen müssen zu einem Handeln angehalten
werden, welches ihrem Wesen entspricht und gleichzeitig ihr materielles und
spirituelles Wohl befördert. Staatslenker sollten daher ein differenziertes
Ordnungssystem etablieren.
DIE DREI GRUNDENERGIEN
Folgende Grundneigungen lassen sich gemäß den Veden ausmachen:
sattva (Tugend) - Farbe gelb
Tugendhafte Menschen interessieren sich für die Lösung der existenziellen
Probleme. Sie streben nach der Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und
Tod, tendieren zu einem einfachen Leben, möglichst ohne Gewaltanwendung,
essen mäßig und natürlich vegetarisch. Sie meiden das betriebsame Stadtleben
und lieben eher ein bescheidenes Leben auf dem Lande.
Auch Tiere und Pflanzen lassen sich in dieser Erscheinungsweise finden. So
gehört zum Beispiel die Kuh zur Erscheinungsweise der Tugend, da sie nur
Gras isst, jedoch viel zu geben hat. Es ist daher entgegen dem Plan des
Schöpfers, die Kühe als Fleischlieferanten zu betrachten.
rajas (Leidenschaft) - Farbe rot
Leidenschaftliche Menschen möchten im Leben etwas erreichen, gehen materiell
fruchtbringenden Tätigkeiten nach, möchten in der Gesellschaft angesehen
sein und berühmt werden. Sie sind geschäftig und schmieden ständig Pläne,
wie sie ihren Einfluss vergrößern können.
tamas (Unwissenheit oder Stumpfheit) - Farbe blau
Menschen in Dunkelheit interessieren sich nur für unmittelbar das, was sie
gerade erleben. Sie träumen gern, neigen zu Inaktivität, Gleichgültigkeit,
Stumpfsinn bis hin zu Depression. Sie haben keine längerfristigen Pläne zur
Erreichung irgend welcher Ziele. Viele Blues-Kompositionen deuten auf diese
Erscheinungsweise hin (interessant ist die korrespondierende Farbe blau!!!).
MISCHFARBEN
Nun ist es meist so, dass diese Grundfarben nicht rein auftreten sondern
vermischt, jedoch lassen sich bei den Lebewesen schon Tendenzen erkennen,
die hervorstechen. Auch schwanken die Bewusstseinszustände eines jeden
Lebewesens entsprechend dessen Alter, den Jahres- und Tageszeiten und den
sonstigen Einflüssen, die es so gibt.
GESELLSCHAFTLICHE ROLLEN UND DAZUGEHÖRENDE QUALIFIKATIONEN
Shri Krishna umreißt in der Bhagavad-gita kurz die klassischen
gesellschaftlichen Rollen, nämlich
die Brahmanen, die Kshatriyas, die Vaishyas und die Shudras
DIE BRAHMANEN (Der Kopf der Gesellschaft)
Die Brahmanen werden mit dem Kopf des gesellschaftlichen Körpers verglichen.
Sie sollen intelligent sein, die absolute Wahrheit kennen, tugendhaft leben
und das Vorbild eines religiöses Lebens repräsentieren. In der vedischen
Gesellschaft fungieren sie als Ratgeber, spirituelle Meister und Priester.
Die Staatsführung ist auf ihre Weisheit, Weitsicht und Unparteilichkeit
angewiesen. Ein Staatsoberhaupt wird nur akzeptiert, wenn die Weisen ihre
Segnungen geben.
Brahmanen dürfen nur aus dem Kreis derjenigen Menschen akzeptiert werden,
die hauptsächlich in der Erscheinungsweise der Tugend verankert sind.
DIE KSHATRIYAS (Die Arme der Gesellschaft)
Die Kshatriyas sind die Staatsoberhäupter und sonstige Politiker, die auf
das Volk lenkend einwirken. Sie sollen mutig, gerecht, barmherzig und
wohltätig sein und die brahminische Kultur hoch halten. Sie sollen nicht
totalitär regieren, sondern die Ratschläge der Brahmanen und auch die
Volksmeinung berücksichtigen.
Leidenschaftliche Menschen neigen dazu, solche Führungsaufgaben übernehmen
zu wollen. Sie sind aber nur dann qualifiziert, wenn sie tugendhaftes Leben
wertschätzen, also die Brahmanen respektieren. Im Laufe des Lebens werden
solch qualifizierten Kshatriyas immer mehr selbst in der Erscheinungsweise
der Tugend gefestigt und sind gehalten, ihr Amt rechtzeitig an einen
Nachfolger abzugeben, um sich noch auf den Tod vorbereiten zu können und
damit ein Beispiel für andere zu sein. Ein vorbildlicher Führer zeigt also
zum Lebensende hin Loslösung von der Welt, was eine hevorstechend gute
Eigenschaft ist.
DIE VAISHYAS (Der Magen / Die materielle Versorgung der Gesellschaft)
Die Vaishyas sind die Geschäftsleute und Landwirte. Sie sollen ihre
Beschäftigten mit allem nötigen versorgen. Sie tragen mit Abgaben das
Staatswesen im allgemeinen.
Die Rolle von Vaishyas nehmen meist Lebewesen ein, die insbesondere von
Leidenschaft und Unwissenheit beeinflussbar sind. Die Vaishyas üben Tugend,
indem sie nicht ausschließlich an ihr eigenes Wohlergehen denken sollen,
sondern eben auch an das ihrer Beschäftigten und des Staates im allgemeinen.
Dieser Zug von Barmherzigkeit und Großzügigkeit ist ein wichtiges Element
der Tugend. Der Verfasser vermag sich noch an einen Unternehmer zu erinnern,
der diese Qualifikation hatte und daher allseits bei der Belegschaft beliebt
war. Der Vater des Verfassers hat in diesem Betrieb als Dreher gearbeitet
und konnte nicht klagen, sondern wusste nur Gutes von diesem edelherzigen
Unternehmer zu berichten.
DIE SHUDRAS (Die Beine der Gesellschaft)
Die Shudras leisten Dienste aller Art für die anderen. Es sind Arbeiter,
Angestellte und Beamte in nicht leitender Funktion. Sie sollen pünktlich und
fleißig sein und nicht stehlen. Das heißt nichts anderes als dass auch
Shudras zu Tugendhaftigkeit angehalten werden, obwohl eben hier auch je nach
Dienstanforderungen Menschen akzeptiert werden, die hauptsächlich von
Dunkelheit (tamas) beeinflussbar sind.
IST DAS VEDISCHE MODELL AUF UNSERE ZEIT ÜBERTRAGBAR?
Wir fragen uns nun zurecht, ob dieses vedische Modell nicht eine
undurchlässige Klassengesellschaft darstellt.
Dem ist zu entgegnen, dass im vedischen Gesellschaftsmodell charakterliche
und körperliche Qualifikationen dafür ausschlaggebend sind, welche Funktion
jemand übernehmen kann. Das schließt nicht aus, dass man sich im Lauf der
Zeit höher qualifiziert und dementsprechend andere Rollen ausfüllen kann.
Die Menschen werden in ihrer jeweiligen Funktion dazu angehalten, sich
vorteilhaft in Richtung Tugendhaftigkeit zu entwickeln. Es geht im vedischen
Modell ausschließlich um QUALIFIKATION. Das heutige, zurecht kritisierte
Hindu-Kastensystem ist NICHT vedisch, denn hier werden Menschen aufgrund
ihrer Geburt in einer bestimmten Familie abgestempelt. Die Menschen sollen
hingegen entsprechend ihren Qualifikationen gesellschaftliche Rollen
übernehmen. Qualifikationen kann man sich erwerben, und somit muss ein
vedisches System auch den Umstieg von Menschen in andere Funktionen
ermöglichen. Solche Fälle sind aus der vedischen Geschichtsschreibung
bekannt. Man kann jedoch beobachten, dass bei der Mehrzahl der Menschen
bestimmte Eigenschaften das Leben dominieren und sie stetig in ihrem
jeweiligen Dienst für die Gesellschaft bleiben, ob als Arbeiter,
Angestellte, Beamte, Künstler, Musiker, Politiker etc.
DAS VEDISCHE STAATSZIEL
Vedisches Staatsziel ist es, die Lebewesen im Dienst der absoluten Wahrheit
zu beschäftigen. Darin sind sich alle Mitglieder des vedischen
Gesellschaftssystems gleich (Gleichheitsgrundsatz). Die absolute Wahrheit
wird darin gesehen, dass die Lebewesen von Natur aus Diener sind. Diesen
Dienst können sie als Menschen verschiedenster Qualifikation sinnvoll
darbringen, indem sie zusammen für das Wohl des Staates arbeiten. Der Staat
selbst wird als Repräsentation der absoluten Wahrheit hoch gehalten. Das
Staatsoberhaupt soll qulifiziert sein, Gott auf Erden zu vertreten. Nicht
mehr und nicht weniger wird von ihm erwartet.
ANALYSE HEUTIGER TENDENZEN
Wenn wir uns die spätkapitalistische Kultur im Lichte der vedischen Tradition betrachten, fällt auf, dass Geld die Welt regiert und nicht die Vernunft, wie es eigentlich sein sollte. Idealerweise sollten gottesfürchtige Staatsführer den nötigen Interessenausgleich zwischen den stärkeren und schwächeren Mitgliedern der Gesellschaft mutig gestalten. Es ist im Lichte der Veden ein Unding, dass die Geldwirtschaft von staatsunabhängigen Instituten gelenkt wird. Das Geldsystem gehört ohne wenn und aber in die Hände des Staates, denn es ist eines der wichtigsten Machtmittel. Ein ungelenkter Kapitalismus führt notwendigerweise zu sozialem Elend. Die soziale Marktwirtschaft war eine vedisch geprägte Idee, wird jedoch immer weniger praktiziert. Es ist die Pflicht des Staatsoberhauptes, Vollbeschäftigung zu garantieren, und es gibt immer genug zu tun für jeden, wenn man sich nur mal die Umwelt ansieht, was man da alles aufräumen und verschönern könnte. Zwangsarbeit ist allerdings kein vedisches Instrument. Für diejenigen, die keiner geregelten Beschäftigung nachgehen möchten, sieht das vedische System ein Bettlerleben vor. Bettler werden im vedischen System nicht verachtet. Sie müssen jedoch nicht in einer Weise unterstützt werden, dass sie sich unnötige Dinge zulegen können. Die Unterstützung sollte sich bei arbeitsfähigen Verweigerern auf das Allernötigste beschränken. Diejenigen jedoch, die arbeiten möchten, müssen entsprechend ihrer Natur beschäftigt werden. Der Verweis auf mangelnde Arbeitsplätze ist keine Ausrede für ein verantwortungsbewusstes Staatsoberhaupt. Der Staat kann all diese Menschen beschäftigen, denn es gibt genug zu tun. Man befördert die Erscheinungsweise der Unwissenheit, wenn man die Menschen einfach ihrem Schicksal überlässt. Das führt zu sittlich und moralischem Verfall. Der Staat hat die Pflicht, die Menschen zur Arbeit anzuhalten, wobei Zwangsarbeit kein vedisch legitimes Mittel ist. Viel besser in diesem Zusammenhang wären vedische Unterweisung in Philosophie. Die Menschen müssten durch die Massenmedien dazu angehalten werden, den Sinn des Daseins zu verwirklichen. Dass genau das Gegenteil geschieht, muss hier nicht erklärt werden.
Der Staat sollte ausschließlich diejenigen Unternehmer fördern, die das Wohl
der Beschäftigten im Auge haben bzw. die Gesellschaft insgesamt fördern.
Unproduktiven Spekulationsgeschäften sollte der Riegel vorgeschoben werden,
denn es geht hier um Diebstahl an Gemeineigentum. Wer durch reine
Spekulation Gewinne erzielt, nimmt notwendigerweise anderen etwas weg, ohne
dafür einen sinnvollen Beitrag für die Gesellschaft geleistet zu haben.
SCHLUSSBEMERKUNG
Das sind nur ein paar wenige Gedanken zum Thema ohne Anspruch auf
Vollständigkeit oder Absolutheit, denn im vedischen Gesellschaftssystem gibt
es Meinungsvielfalt. Dieser Beitrag gibt nur die Haltung des Verfassers
wieder und ist nicht eine offizielle Stellungnahme der ISKCON.
Ihr Diener
Parivadi dasa