Shri Gauranga am Ganges
n einer Vollmondnacht saß der Herr mit Seinen vielen Schülern am
Ufer der Ganga und erörterte literarische Themen. Zufällig kam auch
der große Gelehrte Keshava Kashmiri Pandita dorthin.
Während
er der Mutter Ganga Gebete darbrachte, begegnete er Chaitanya Mahaprabhu.
Der Herr empfing ihn mit Bewunderung, doch weil Keshava Kashmiri
sehr stolz war, sprach er zum Herrn sehr unbesonnen. "Ich hörte,
dass Du ein Grammatiklehrer bist", sagte er, "und dass Du Nimai
Pandita heißt. Die Menschen sprechen mit Bewunderung von Deinem
Unterricht in Grammatik für Anfänger. Ich weiß, dass Du von Kalapa-
vyakarana lehrst. Ich habe gehört, dass Deine Schüler in der Wortspielerei
dieser Grammatik sehr bewandert sind." Der Herr sprach: "Ja, ich
bin als Grammatiklehrer bekannt, doch im Grunde kann ich meinen
Schülern kein grammatisches Wissen vermitteln; noch können sie Mich
verstehen. Mein lieber Herr, während du ein sehr großer Gelehrter
in allen Arten von Schriften bist und dich sehr gut darauf verstehst,
Dichtungen zu verfassen, bin ich nur ein Knabe, ein neuer Schüler,
und nicht mehr. Deshalb möchte ich Deine Kunstfertigkeit in der
Dichtung hören. Wir könnten sie vernehmen, wenn du gnädigerweise
die Herrlichkeit der Mutter Ganga beschreiben würdest." Als der
Brahmane, Keshava Kashmiri, dies hörte, wurde er nur noch eingebildeter,
und innerhalb einer Stunde verfasste er einhundert Verse, die die
Mutter Ganga beschrieben. Der Herr pries ihn mit den Worten: "Herr,
es gibt auf der Welt keinen größeren Poeten als dich. Deine Dichtung
ist so schwierig, dass niemand sie verstehen kann außer dir und
Mutter Sarasvati, der Göttin der Gelehrsamkeit. Doch wenn du die
Bedeutung eines Verses erklärst, können wir alle es aus deinem eigenen
Mund hören und so sehr glücklich sein." Keshava Kashmiri fragte,
welchen Vers Er erklärt haben wolle. Der Herr trug darauf einen
der hundert Verse vor, die Keshava Kashmiri verfasst hatte: "Die
Größe der Mutter Ganga besteht immer strahlend. Mutter Ganga kann
sich überaus glücklich schätzen, denn sie ging von den Lotosfüßen
Shri Vishnu, der Persönlichkeit Gottes, aus. Sie ist die zweite
Glücksgöttin, und deshalb wird sie von Halbgöttern und Menschen
immer verehrt. Mit all ihren herrlichen Eigenschaften blüht sie
auf dem Kopf Shivas"
Als Shri Chaitanya Mahaprabhu ihn bat, die Bedeutung dieses
Verses zu erklären, stellte Ihm der Meister, der sehr erstaunt war,
folgende Frage: "Ich trug alle Verse wie der stürmende Wind vor.
Wie konntest Du auch nur einen dieser Verse vollständig auswendig
lernen?
Der Herr entgegnete: "Durch die Gnade des Herrn mag jemand
ein großer Dichter werden, und in ähnlicher Weise mag durch Seine
Gnade ein anderer ein großer shrutidhara werden, er alles augenblicklich
im Gedächtnis behalten kann."
Durch die Antwort Shri Chaitanya Mahaprabhus befriedigt,
erklärte der Brahmane den zitierten Vers. Darauf sagte der Herr:
"Erkläre nun gütigerweise die besonderen Eigenschaften und Fehler
in diesem Vers."
Der Brahmane erwiderte: "Es gibt nicht die Spur von Fehler
in diesem Vers. Vielmehr besitzt er die guten Eigenschaften des
Vergleichs und des Stabreims."
Der Herr sprach: "Mein lieber Herr, Ich möchte etwas
sagen, wenn du nicht zornig wirst. Kannst du die Fehler in diesem
Vers erklären? Es steht außer Frage, dass deine Dichtung von großer
Erfindungsgabe zeugt, und gewiss hat sie den Höchsten Herrn erfreut;
doch werden wir bei einer kritischen Untersuchung sowohl gute Eigenschaften
als auch Fehler finden. Lass uns deshalb diesen Vers sorgfältig
untersuchen."
Der Dichter erwiderte: "Gut, aber der Vers, den Du vorgetragen
hast, ist vollkommen in Ordnung. Du bist ein gewöhnlicher Grammatikschüler.
Was weißt Du von literarischen Ausschmückungen? Du kannst diese
Dichtung nicht untersuchen, weil Du nichts darüber weißt."
Indem Er sich demütig gab, sagte Shri Chaitanya Mahaprabhu:
"Weil ich nicht auf der gleichen Stufe stehe wie du, bat ich dich,
Mich durch eine Erklärung der Fehler und Eigenschaften in deiner
Dichtung zu belehren. Gewiss habe Ich die Kunst der literarischen
Ausschmückung nicht studiert, doch habe Ich von höheren Kreisen
darüber gehört, und deshalb kann Ich diesen Vers untersuchen und
finde in ihm viele Fehler und viele gute Eigenschaften."
Der Dichter sagte: "Nun gut, lass mich sehen, welche
Eigenschaften und Fehler Du gefunden hast."
Der Herr erwiderte: "Lass Mich sprechen, und höre Mir
bitte zu, ohne zornig zu werden. Mein lieber Herr, in diesem Vers
gibt es fünf Fehler und fünf literarische Ausschmückungen. Ich werde
sie nacheinander aufführen. Höre Mir gütigerweise zu, und fälle
dann Dein Urteil:
In diesem Vers kommt der Fehler avimrishta-vidheyamsa
zweimal vor, und die Fehler viruddha-mati, bhagna-krama
und punar-atta kommen je einmal vor. Weil du das bekannte
Subjekt ans Ende und das, was unbekannt ist, an den Anfang gestellt
hast, ist die Konstruktion fehlerhaft, und die Bedeutung der Worte
ist zweifelhaft geworden. Ohne zunächst zu erwähnen, was bekannt
ist, soll man nicht etwas Unbekanntes einführen, denn das, was keine
solide Grundlage hat, kann niemals und nirgendwo bestehen. In dem
Wort dvitiya-Shrilaksmir ist die Eigenschaft, eine zweite
Lakshmi zu sein, unbekannt. Durch die Bildung dieses zusammengesetzten
Wortes wurde die Bedeutung zweitrangig, und die ursprüngliche beabsichtigte
Bedeutung ging verloren. Weil das Wort dvitiya unbekannt
ist, ging durch seine Stellung in diesem zusammengesetzten Wort
die beabsichtigte Bedeutung der Gleichheit mit Lakshmi verloren.
Nicht nur findet man dort den Fehler avimrishta-vidheyamsa,
sondern es gibt dort noch einen anderen Fehler, den Ich dir zeigen
werde. Höre Mir gütigerweise aufmerksam zu. Hier ist ein weiterer
schwerer Fehler. Du hast das Wort bhavani-bhartri zu deiner
großen Zufriedenheit benutzt, doch dies verrät den Fehler des Widerspruchs.
Das Wort bhavani bedeutet 'die Frau Shivas Doch wenn wir
ihren Gemahl erwähnen, mag man daraus schließen, sie habe noch einen
anderen Ehemann. Es ist widersprüchlich zu hören, dass Shivas Frau
noch einen anderen Gemahl hat. Der Gebrauch solcher Wörter in Schriftwerken
führt zu dem Fehler, den man viruddha-mati-krt nennt."
Lord Chaitanya führt weitere Fehler an.
Nachdem der Meisterdichter die Erklärung Shri Chaitanya
Mahaprabhus vernommen hatte, konnte er, von Verwunderung ergriffen,
kein Wort hervorbringen. Darauf begann er, diese Verwirrung, in
seinem Geist zu überdenken:
"Dieser bloße Knabe hat meine Intelligenz blockiert.
Ich kann daher verstehen, dass Mutter Sarasvati auf mich zornig
geworden ist. Die wunderbare Erklärung, die dieser Knabe gegeben
hat, war keinem Menschen möglich. Deshalb muss Mutter Sarasvati
persönlich durch Seinen Mund gesprochen haben."
Mit diesen Gedanken sagte der Dichter:
Mein lieber Nimai Pandita (Gauranga), bitte höre mir
zu. Deine Erklärung versetzt mich in Erstaunen. Ich bin überrascht.
Du bist kein Literaturstudent und besitzt keine lange Erfahrung
im Studium der Schriften. Wie ist es Dir möglich gewesen, all diese
kritischen Punkte zu erklären?"
Als Shri Chaitanya Mahaprabhu dies hörte und erkannte,
was im Herzen des Dichters vor sich ging, antwortete Er auf humorvolle
Weise:
"Mein lieber Herr, Ich weiß nicht, was gute und was schlechte
Dichtung ist. Man muss verstehen, dass alles, was ich gesprochen
habe, von Mutter Sarasvati gesprochen wurde."
Als er diese Worte aus dem Munde Shri Chaitanya Mahaprabhus
hörte, wurde der Dichter traurig und wunderte sich, warum Mutter
Sarasvati ihn durch einen kleinen Jungen schlagen wollte.
"Ich werde der Göttin der Gelehrsamkeit Gebete und Meditation
darbringen", schloss der Meister, "und sie fragen, warum sie mich
durch diesen Knaben so sehr geschmäht hat."
Sarasvati hatte in der Tat den Meister dazu veranlasst,
seinen Vers in unreiner Weise zu verfassen. Als dieser Vers dann
später erörtert wurde, verhüllte sie die Intelligenz des Dichters,
und so war die Intelligenz des Herrn siegreich.
Als der Meisterdichter so geschlagen war, begannen alle
Schüler des Herrn, die in der Nähe saßen, laut zu lachen. Shri Chaitanya
Mahaprabhu bat sie jedoch, dies nicht zu tun, und dann wandte Er
Sich mit folgenden Worten an den Dichter:
"Du bist der größte Gelehrte und der beste aller großen
Dichter, denn wie sonst konnte solch eine erlesene Poesie aus deinem
Mund kommen? Deine Dichtkunst gleicht dem ständigen Fließen des
Wassers der Ganga. Ich kenne niemanden auf der Welt, der sich mit
dir vergleichen kann. Selbst in den Werken solch großer Dichter
wie Bhavabhuti, Jayadeva und Kalidasa gibt es viel Beispiele von
Fehlern. Solche Fehler sollten als unwesentlich betrachtet werden.
Man sollte nur sehen, wie solche Dichter ihre dichterische Macht
entfaltet haben. Ich bin nicht einmal geeignet, dein Schüler zu
sein. Nimm daher gütigerweise irgendwelche kindischen Unverschämtheiten,
die Ich gezeigt haben mag, nicht ernst. Bitte kehre heim. Morgen
mögen wir uns wieder treffen, auf dass es Mir vergönnt sei, Erörterungen
der Schriften aus deinem Mund zu vernehmen."
So kehrten sowohl der Dichter als auch Chaitanya Mahaprabhu
heim, und in der Nacht verehrte der Dichter Mutter Sarasvati. In
einem Traum gab ihm die Göttin über die Stellung des Herrn Auskunft,
und der Meisterdichter konnte verstehen, dass Shri Chaitanya Mahaprabhu
die Höchste Persönlichkeit Gottes Selbst ist. Am nächsten Morgen
kam der Dichter zu Shri Chaitanya Mahaprabhu und ergab sich Seinen
Lotosfüßen. Der Herr segnete ihn mit Seiner Barmherzigkeit und zerschnitt
seine Fessel an materielle Anhaftung. Der Meisterdichter war zweifellos
sehr vom Glück begünstigt. Sein Leben war kraft seiner weitreichenden
Bildung und großen Gelehrsamkeit erfolgreich, und so erreichte der
den Schutz der Lotosfüße Shri Chaitanya Mahaprabhus.

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